- russische Musik
- rụssische Musik,die Musik der Großrussen, Ukrainer und Weißrussen. Die Anfänge ihrer Volks- und Kirchenmusik reichen in die Vor- und Frühgeschichte der slawischen Bevölkerung dieses Raumes zurück; bis ins 17. Jahrhundert entwickelte sie sich ohne wesentlicher Beziehung zur abendländischen Kunstmusik. Das mannigfaltige Repertoire der Volksmusik bilden u. a. Gebrauchslieder und Tänze (Chorowody), lyrische und epische Lieder (Starinen und Bylinen), Scherzlieder (Tschastuschki) und historische Lieder. Ihre tonale und melodische Eigenart beruht auf den altkirchlichen Modi und auf der Pentatonik, auf den asymmetrischen Taktarten und gelegentlich auf freier Polyphonie (Podgolossok). Die instrumentale Folklore wurde v. a. von den Skomorochi (fahrenden Musikanten und Schauspielern) betrieben. Unter dem Einfluss der Vokalpolyphonie entwickelte sich auch das mehrstimmige Spiel auf verschiedenen Volksinstrumenten; zu nennen sind u. a. Gudok (Streichinstument), Bandura, Domra, Balalaika, Gusli, von den Blasinstrumenten u. a. die Duda.Die Kirchenmusik war im alten Russland zuerst an die griechische sowie an die altkirchenslawische beziehungsweise altbulgarische Sprache gebunden. In der Frühgeschichte wurde sie von der byzantinischen und altslawischen Liturgie geformt. Bis in das 17. Jahrhundert hinein blieb sie einstimmig, ihre Tonalität und Melodik verwendeten die alten griechischen Modi und melodischen Formeln des altslawischen Kirchengesangs. Mit dem Übersetzen der liturgischen Texte in die Vulgärsprache setzten sich allmählich auch nationale Elemente durch. Die ersten musikalischen Denkmäler aus Kiew (12. Jahrhundert) zeigen schon russische Neumen (Krjuki). Wichtig für die künstlerische Entfaltung der russischen Kirchenmusik wurde die Aufnahme der abendländischen Polyphonie und später der vokalinstrumentalen Formen des italienischen Barock und der Vorklassik in Werken u. a. von D. S. Bortnjanskij. An diese Tradition haben später auch die russischen Romantiker (P. I. Tschaikowsky, N. A. Rimskij-Korsakow, S. W. Rachmaninow) und I. Strawinsky angeknüpft.Die russische Kunstmusik ist in ihren Anfängen eng mit der Tätigkeit ausländischer Musiker verbunden. Nachdem im frühen 17. Jahrhundert westeuropäische Musiker ins Land geholt worden waren und gelegentlich Aufführungen deutscher Musik stattgefunden hatten (so 1673 das verlorene Ballett »Orpheus und Euridike« von H. Schütz), stand die Musik der Aristokratie und ihrer leibeigenen Kapellen und Operntruppen seit Peter dem Großen völlig unter deutschem, französischem und italienischem Einfluss. In Sankt Petersburg beherrschten italienischen Komponisten wie Francesco Araja (* 1709, ✝ 1770), B. Galuppi, T. Traetta, G. Sarti, G. Paisiello, D. Cimarosa, Catterino Cavos (* 1775, ✝ 1840) die Oper bis zum 19. Jahrhundert (Werke zum Teil auf russische Texte); daneben unternahmen im 18. Jahrhundert Wassilij A. Paschkewitsch (* um 1742, ✝ 1797) und Jewstignij I. Fomin (* 1761, ✝ 1800) Versuche in der russischen Oper; Bortnjanskij stand mehr unter westlichem Einfluss. - Mit M. I. Glinkas Opern begann die nationalrussische Kunstmusik (»Das Leben für den Zaren«, 1836; »Ruslan und Ljudmila«, 1842). In A. S. Dargomyschskij fand er einen Nachfolger, der in »Russalka« (1856) und »Der steinerne Gast« (1866-68; vollendet von Z. A. Kjui und N. A. Rimskij-Korsakow, 1872 aufgeführt) seine Musik dem Tonfall der russischen Sprache anpasste. Dagegen orientierten sich der Wagnerfreund Aleksandr Nikolajewitsch Serow (* 1820, ✝ 1871) und A. G. Rubinstein an westlicher Musik. Die nationalen Bestrebungen wurden seit 1862 von der Gruppe Mächtiges Häuflein um M. A. Balakirew - der auch eine Volksliedersammlung veröffentlichte - weitergeführt: A. P. Borodin, Z. A. Kjuj, M. P. Mussorgskij und Rimskij-Korsakow; Mussorgskij schuf mit »Boris Godunow« (1874) eines der großen musikdramatischen Werke seiner Zeit. Rimskij-Korsakow schrieb die erste russische Sinfonie und wurde in Sankt Petersburg zum Lehrer einer ganzen Komponistengeneration: A. K. Ljadow, A. S. Arenskij, A. T. Gretschaninow, A. K. Glasunow, N. N. Tscherepnin, N. J. Mjaskowskij und Strawinsky. In Tschaikowskys Musik, die in Westeuropa größte Anerkennung fand, tritt das nationale Element zugunsten westlich romantischer Ausdrucksstärke zurück. In seiner Nachfolge standen sein Schüler S. I. Tanejew - ein Meister des Kontrapunkts - und Rachmaninow. A. N. Skrjabin wandte sich, von F. Chopin ausgehend, einem expressiven Mystizismus zu, der die Moderne um 1910 anregte. Skrjabin beherrschte die russische Musik bis etwa 1930. Er fand zahlreiche Nachahmer; lediglich N. A. Roslawez entwickelte seine Tonsprache selbstständig weiter. Strawinsky nahm in der neuromantischen Tradition schon früh impressionistische Impulse auf (»Feuervogel«, 1910), S. S. Prokofjew griff klassizistische Stilmittel auf; Letzterer wurde später zu einem repräsentativen Vertreter der gemäßigten Moderne.Nach der Oktoberrevolution (1917) herrschte zunächst in Abkehr von der als bürgerlich empfundenen russischen Musik des 19. Jahrhunderts eine Vorliebe für die westeuropäische Moderne und eine allgemeine Experimentierfreudigkeit. Besonders seit 1932 wurde die Neue Musik als formalistisch verdammt und eine optomistische, für die Massen verständliche und eindrucksvoll heroische Musik gefordert (sozialistischer Realismus). Dies führte zum Rückgriff auf die Volksmusik, auf die traditionelle Harmonik und Sinfonik des 19. Jahrhunderts, auch zu öffentlichen Maßregelungen bedeutender Komponisten, deren Werke von der vorgeschriebenen Art abwichen. Von den älteren Komponisten spielten u. a. Glasunow, R. M. Glier, Mjaskowskij und Maximilian Ossejewitsch Steinberg (* 1883, ✝ 1946) auch in dieser Zeit eine Rolle. Als bedeutendster jüngerer Komponist trat - v. a. mit Sinfonien - D. D. Schostakowitsch hervor, neben ihm wurde A. I. Chatschaturjan international bekannt, während J. A. Schaporin, W. J. Schebalin, D. B. Kabalewskij und I. I. Dserschinskij nicht über die Landesgrenzen hinaus wirken konnten.Seit Mitte der 80er-Jahre wurde die offizielle kulturpolitische Haltung gegenüber avantgardistischer Musikbestrebungen zunehmend liberaler. Die Beschäftigung mit Zwölftontechnik, serieller Musik, Collagetechniken und anderen, auch experimentellen Kompositionsweisen wurde geduldet und nicht mehr mit dem Verdikt der »formalistischen Verfallskunst« belegt. Mittlerweile wird der Anschluss an die westliche Moderne gesucht und gepflegt und eine eigenständige neue Musik angestrebt. Als bedeutender Vertreter avantgardistischer Musik gilt W. W. Silwestrow. Der experimentellen Musik, der in Moskau ein Experimentalstudio zur Verfügung steht, wandten sich u. a. E. W. Denissow, die seit 1992 in Deutschland lebende Sofia A. Gubajdulina, A. G. Schnittke und Jelena O. Firsowa zu. Prominente Komponisten konservativer Prägung sind T. N. Chrennikow, Georgij W. Swiridow (* 1915, ✝ 1998), Andrej J. Eschpaj (* 1925), Aleksandr N. Cholminow (* 1925), Boris Tschajkowskij (* 1925), Andrej P. Petrow (* 1930), Sergej M. Slonimskij (* 1932), R. K. Schtschedrin, Andrej M. Wolkonskij (* 1933) und Boris I. Tischtschenko (* 1939).L. L. Sabaneev: Gesch. der r. M. (a. d. Russ., 1926, Nachdr. 1982);G. Abraham: Über r. M. (a. d. Engl., Basel 1947);B. V. Asaf'ev: Russian music from the beginning of the nineteenth century (a. d. Russ., Ann Arbor, Mich., 1953);K. Laux: Die Musik in Rußland u. in der Sowjetunion (Berlin-Ost 1958);F. K. Prieberg: Musik in der Sowjetunion (1965);Russ. Musik-Anthologie. Anthology of Russian music, hg. v. A. Tcherepnin (a. d. Russ., 1966);D. Eberlein: Russ. Musikanschauung um 1900 (1978);D. Gojowy: Neue sowjet. Musik der 20er Jahre (1980);B. Schwarz: Musik u. Musikleben in der Sowjetunion von 1917 bis zur Gegenwart, 6 Tle. (a. d. Amerikan., 1982);V. I. Seroff: Die mächtigen Fünf. Balakirew, Mussorgsky, Borodin, Rimsky-Korsakow, Cui. Der Ursprung der russ. Nationalmusik (a. d. Engl., Zürich 31987);M. Mühlbach: Russ. Musikgesch. im Überblick (1994);D. Redepenning: Gesch. der russ. u. der sowjet. Musik, auf mehrere Bde. ber. (1994 ff.);J. M. Abel: Die Entstehung der sinfon. Musik in Russland (1996).
Universal-Lexikon. 2012.